Alltagsgeschichten: Rees

Deutlich weniger Menschen als sonst waren unterwegs in den Straßen des beschaulichen Städtchens Rees am Niederrhein. Ich fuhr zum örtlichen Lidl, um Obst zu kaufen. Am Eingang stand ein junger Mann, der mich freundlich darauf hinwies, dass Einkaufswagen Pflicht seien. Und er bot mir auch sogleich einen Pfand-Chip an. Ich fragte warum und er verwies auf die Anordnung der Geschäftsleitung. Als ich wiederkam, bot er an, meine Hände und den Wagengriff zu desinfizieren.

Ich lehnte dankend ab.

Warum?, fragte ich mich wenig später. Wäre doch gut gewesen.

Ich trug übrigens eine Maske vor dem Mund. Wollte ausprobieren, wie die Leute reagieren. Und wie es sich für mich selbst anfühlt.

In der Stadt waren die Reaktionen sehr unterschiedlich, von freundlichem Lächeln bis überrascht grimmigen Blicken.

Eigentlich wollte ich zum Arzt, mich allgemein untersuchen lassen und, wenn möglich, auch auf Corona.

Im Discounter waren wenig Kunden, es war gegen 15 Uhr. Als ich an der Kasse alles im Wagen hatte und die Karte zückte, sagte ich zu der freundlichen Kassiererin, die vielleicht um die fünfzig war, sie sei ja völlig ungeschützt vor uns Kunden. Sie trug blaue Handschuhe, aber keinen Mundschutz. Lediglich eine Palette lag da, wo man sonst seinen Wagen hinschiebt. So blieb ich einen halben Meter weiter weg.

"Ja", sagte sie, "das ist so. Da müssen wir durch."

Dann erzählte sie, dass sie erst vier Wochen zuvor von einer Lungenentzündung genesen sei, "aber jetzt bin ich wieder fit".

"Hoppla", sagte ich. "Wenn Sie sich jetzt Corona einfangen, dann wird es aber anstrengend."

Wir wünschten uns gegenseitig gute Gesundheit, dann ging ich hinaus. Der junge Mann stand noch dort und sprayte fleipig Hände ein.

"Ich bin Student", gab er mir Auskunft, "aber jetzt ist ja alles zu."

Er arbeitet für eine Sicherheitsfirma, die Bezahlung sei ok.

"Warum tragen Sie keine Maske?", fragte ich ihn. "Sie kommen ganz nah an so viele Menschen heran."

"Ich habe einige zuhause. Aber die helfen ja nur, wenn man selbst infiziert ist."

"Sind Sie nicht?"

Er zuckte die Schultern.

"Ich glaube nicht."

Das ist es eben. Wir wissen es nicht. Aber wir tun so, als könnten wir nichts an der Situation ändern. Dabei wäre eine Maske definitiv weniger Risiko für alle. Und wenn es nur zehn Prozent wären – für jeden alten Menschen ist es eine Frage von Leben oder Tod.

Wenn der hilfsbereite junge Mann sich morgen das Virus holt und in zehn Tagen erste Symptome zeigt, hat er vielleicht hundert Leute angesteckt. Bis die gefunden und gewarnt werden, sind leicht weitere dreihundert angesteckt. Für die Älteren darunter könnte es das Todesurteil sein.

Mir sind heute insgesamt nur vier Menschen mit Mundschutz begegnet vielleicht ein, zwei Prozent aller Personen. Und wir wundern uns, wieso wir  jeden Tag 5000 neue Fälle in Deutschland haben? Warum geben wir uns so wenig Mühe?

Wir sind nachlässig bis zur Fahrlässigkeit, flächendeckend. Man könnte es auch ignorant oder unbelehrbar nennen. Das ist meine erschreckende Erkenntnis von heute.

 

Ich werde jetzt spazieren gehen und meine Maske tragen. Eben kommen zwei junge Frauen vom Joggen. Sie gehen dicht nebeneinander und reden miteinander, als wäre alles wie immer.

Werde ich jetzt etwa hysterisch?