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Sauber

Sie achtete auf Sauberkeit, aus Prinzip. Es machte einen großen Unterschied, nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Kunden. Besonders für ihre Kunden. Die meisten kämen gar nicht erst, wenn sie nicht so sehr auf Sauberkeit achtete.
Es waren ausschließlich Männer.
Der Eingang sah aus wie all die anderen auch, doch bereits im Flur fiel auf, wie sauber es war. Sie ließ keinerlei Nachlässigkeit zu, und ihre Angestellten wussten, dass sie keine zweite Chance bekamen, wenn sie nachlässig arbeiteten.
Die Sauberkeit erlaubte ihr mehr zu nehmen als alle anderen. Das war der Trick: etwas mehr bieten und teurer sein, dafür mit weniger Kunden gleich viel verdienen. Oder auch mehr.
Sie hatte nur erste Qualität. Es gab ihr das Gefühl, selbst top zu sein. Ihre Kunden waren froh, etwas wirklich Gutes geboten zu bekommen, und sie liebte es sagen zu können, dass sie das Beste zu bieten hatte. Es machte alles so viel einfacher.
Sie hatte ihre Mädchen, die die Kunden versorgten, aber sie ließ es sich nicht nehmen, persönlich nach jedem Einzelnen zu sehen. Sie sprach nur von ihren Gästen, das Worte »Kunde« kam ihr nie über die Lippen.
Die Ware besorgte sie stets über ihren Cousin. Sollte er sie über den Tisch ziehen wollen, sollte sie auch nur den kleinsten Verdacht haben, dass er sie übervorteilte – es wäre vorbei für ihn. Er wusste, sie ging keine Kompromisse ein, hatte die Situation jederzeit unter Kontrolle. Aber solange er sauber arbeitete, konnte er gut damit leben, sehr gut sogar.
Sie bestand auf Sauberkeit auch, damit es weniger Probleme mit Reklamationen gab. Nie hatte ein Kunde sich infiziert, das war eine gute Referenz. Es hatte sich herumgesprochen. Fast alle Gäste waren Ausländer, und sie hatten Ansprüche.
Niemals zeigte sie ihre Gefühle. Sie behandelte alle gleich freundlich, vielmehr, gleich respektvoll. Sie begrüßte sie, war bei ihnen, wenn die Wirkung einsetzte, und hörte geduldig zu, wenn sie redeten, gab ihnen zumindest das Gefühl. Das war wichtig. In ihrem Zustand redeten die Gäste von sehr persönlichen Dingen, verwirrenden, unzusammenhängenden Dingen. Es ging sie nichts an, und sie hörte kaum hin. Sie nickte, sagte ja, sagte hm, aber sie hörte nicht zu. Sie war nicht interessiert an dem, was sie sagten. Sie war interessiert daran, dass sie zahlten, bevor sie gingen.
Sie ging in den Raum mit dem neuen Gast, der auf Empfehlung gekommen war. Er war Anfang zwanzig. Als die Wirkung einsetzte und ihre Mitarbeiterin gegangen war, lag er ausgebreitet auf dem Bett, die Arme von sich gestreckt, den Blick auf den Ventilator an der Decke gerichtet.
Sie entfernte die Binde von seinem Arm und setzte sich neben ihn.
»Ein Wahnsinn«, sagte er mit weicher Stimme, »jeden Tag. Mein Leben – ein Scherbenhaufen. Und trotzdem kommt irgendwie alles zusammen. Die Scherben sind scharf und spitz und keiner weiß, wie sie je einen Spiegel bilden konnten, der die Welt reflektiert, aber so muss es wohl gewesen sein.«
Seine Stimme wurde allmählich undeutlich.
»Lange her. Jetzt bin ich hier. Zuhause ist alles so –«
Seine Augen zuckten hin und her. Sie betrachtete ihre Fingernägel. Es war Zeit für einen Termin bei der Maniküre.
»– so normal. Es geht nicht mehr. Ich habe es versucht, wirklich versucht«, fuhr der junge Mann fort. »Aber es funktioniert nicht. Nichts passt ineinander. Obwohl alles zusammenkommt. Ein Widerspruch, ich weiß. Ich kann es nicht erklären, Wörter sind so unpassend, so grob. Ich will es auch nicht. Völlig sinnlos. Ich – wer bin ich eigentlich? Warum muss das alles so –?«
Sie nickte, sie sagte hm und dann lange nichts, während sie bei ihm sitzen blieb. Er war froh, dass sie da war. Irgendwann klopfte sie ihm auf den Arm, nahm das Besteck und ging hinaus, während er immer noch mit den Wörtern rang. Ihre Zeit war kostbar. Sie rief Mae, bat sie, nach ihm zu sehen, und ging in ihr Büro.
Andere Betreiber verwendeten die Spritzen mehrfach, oft ohne sie zu desinfizieren, aber sie hatte sich immer geweigert, an diesem Ende zu sparen. Über die Jahre hatte sie so viel zur Seite legen können, dass sie nicht darauf angewiesen war, mit billigen Tricks Geld zu sparen. Sie war stolz darauf. Es hob sie heraus aus dem gesichtslosen Elend um sie herum, gab ihr ein Gefühl von Erfolg, von Klasse.
Ihre Gäste schienen so stark, wenn sie hereinkamen und sie um zwei Köpfe überragten, doch sie wusste es besser. Sie sah mit einem Blick, wer erst wenige Fronteinsätze hinter sich hatte. Die Augen der Neuen waren große Wunden, die sich nicht schließen wollten. Die der Erfahrenen wurden klein und hart. Mit jedem Einsatz wuchs der Schmerz, der dunkel in der Wunde wucherte und sie am Heilen hinderte.
Sie verachtete sie. Was sie ihnen anbot war etwas, das sie für sich selbst niemals in Betracht zog. Wer es brauchte, war schwach in ihren Augen, auch wenn es den Wundschmerz linderte. Aber es blieb ein Selbstbetrug. Natürlich hatte auch sie Narben davongetragen. Wer hat das nicht? Auch unter ihren rührte sich etwas, aber sie hatte gelernt es zu ignorieren, obwohl es immer da war. Sie hatte es unter Kontrolle.
Sie saß in ihrem Büro, prüfte Rechnungen, überwachte durch die offene Tür das Kommen und Gehen im Gang. Eines Tages, vielleicht schon bald, würde sie sich zur Ruhe setzen, weit entfernt von all dem. Würde sich ein Grundstück am See kaufen, groß genug, um ihre Ruhe zu haben und keine Gäste mehr empfangen zu müssen, die sie verachtete. Sie würde malen, Gedichte schreiben und Künstler unterstützen, die es verdienten, sich mit den klassischen Philosophen beschäftigen und es nie wieder ertragen müssen, wenn jemand von seinem zerrütteten Leben fabulierte. Mae würde nach ihr sehen und geduldig zuhören, wenn sie von ihrem eigenen zu sprechen begann. Ihr zumindest das Gefühl geben. Und das war doch schon viel wert, nicht wahr?

 

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