Was wir lernen könnten – wenn wir wollten

Tedros Adhanom Gebreyesus, Generaldirektor der WHO, warnt vor den weltweite Folgen des Coronavirus im März
Tedros Adhanom Gebreyesus, Generaldirektor der WHO, warnt vor den weltweite Folgen des Coronavirus im März

Höchste wissenschaftliche Standards, öffentliche Gesundheitssysteme, totale Information – und doch zählen einige der wohlhabendsten Länder der Welt unerträglich hohe Opferzahlen im Verlauf der Corona-Pandemie. Ein Widerspruch, der nachdenklich macht.
Ich glaube, es liegt an unserer Haltung. Mich selbst kann ich dabei nicht ausnehmen.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Die Meldungen waren schon seit Tagen in der Presse, aber so richtig erkennbar war die Krise für mich noch nicht. Als ich dann am 16. März erfuhr, dass ab dem nächsten Tag keine Arbeit mehr auf mich wartete, änderte sich meine Situation grundlegend. Die Krise hatte mit einem Schlag auch mein Leben erreicht.
Doch selbst dann konnte ich meinen Alltag relativ unbehelligt weiterführen. Nur hatte ich jetzt viel mehr Zeit. Ich war ratlos, aber auch froh über den Zwangsurlaub, hatte ich doch genügend Reserven für die nächsten Monate.
Dann verschärfte sich die Situation. Innerhalb weniger Tage schlossen fast alle Geschäfte, wir sollten zuhause bleiben, nur noch zum Einkaufen und Bewegen nach draußen gehen, keine Besuche machen, uns nicht mit Anderen treffen.
Jetzt erst begann ich zu begreifen und mein Verhalten zu ändern. Auch die Menschen um mich her blieben (überwiegend) auf Distanz.
Was in meinem kleinen Leben und in all unseren Millionen Leben so lange gedauert hat, das war im Großen, bei den Regierungen dieser Welt, nicht anders.
Die WHO warnte am 10. und 11. Januar Regierungen in mehreren Ländern vor den zu erwartenden Auswirkungen des Coronavirus. Aber erst, als sie am 13. März eine Pandemie ausrief, begannen die Regierungen zu handeln. Bereits Wochen zuvor hatte es Krisensitzungen, Spekulationen und Warnungen an die Bevölkerung gegeben, aber keine konkreten Anordnungen.
Diese zwei Monate des ungläubigen Zuschauens haben Zehntausende von Leben gekostet.
Dafür brauchte es nicht die Unbelehrbarkeit eines Donald Trump. In Italien, Spanien, Frankreich sind die Infektions- und Todeszahlen deutlich höher als bei uns oder in Österreich. Dort war das öffentliche Leben trotz erster Infektionsfälle unbeschränkt geblieben. Umso mehr schmerzt heute der Rückblick auf diese Zeit. Und auch, dass es offenbar „normal“ ist. Ich selbst habe ja kaum anders reagiert.
In den asiatischen Ländern allerdings war man deutlich schneller und konsequenter mit der Vorsorge. Dabei heißt es doch immer, dass bei uns ein Menschenleben so viel wert sei.
Die Warnungen der WHO wurden nicht erst 2020 ignoriert, sondern jahrelang.
Führungskräfte der WHO sind mittlerweile zutiefst frustriert über ihre Machtlosigkeit angesichts der Reaktionen der Mitgliedsstaaten. Keine Regierung wollte sich von ihnen etwas „vorschreiben“ lassen. Jedes Land ging seinen eigenen Weg, das vereinte Europa erwies sich als ein Haufen egoistischer Nationen.
Andererseits ist deutlich, dass die italienische, aber besonders die spanische Regierung wider besseres Wissen gehandelt haben. Oder war es schiere Ignoranz? Es gibt Berichte über Wutausbrüche chinesischer Ärzte, die in Italien halfen, weil kaum jemand eine Maske trug, zu wenig Abstand eingehalten wurde, die Leute einfach nicht taten, was sie hätten tun sollen. In Spanien fanden zu der Zeit sogar noch große Demonstrationen statt, mit Beteiligung von Ministerinnen, die anschließend positiv getestet wurden.
Spaniens armer Nachbar Portugal kam erheblich besser durch die Krise und zeigte dabei auch noch Größe: Das Innenministerium ließ alle laufenden Anträge von Asylsuchenden und Flüchtlingen ohne Prüfung genehmigen, so dass sie Zugang zum Gesundheitssystem bekamen. Auch Irland hat alle Visas automatisch verlängert und Migranten medizinische Behandlung ermöglicht.
Derweil eskalierte die Lage in Norditalien, Spanien und Frankreich, in den USA wähnt man sich (wieder einmal) im Krieg. Tatsächlich müssen dort Corona-Opfer zum Teil in Massengräbern beerdigt werden, weil es einfach so viele geworden sind.
Es ist ein Krieg gegen die Folgen der eigenen Ignoranz.
Mit Zuspitzung der Lage häuften sich die Verteilungskämpfe: Masken, Schutzkleidung, Handschuhe, Beatmungsgeräte wurden heißbegehrte Mangelware. Amerikaner kauften ganze Flugzeugladungen vor dem Verladen weg, lenkten Transporte in die USA, um die eigenen Versäumnisse auszugleichen, die zu dramatischen Mängeln in der Heimat geführt hatten. Pfleger in den Krankenhäusern streifen sich teilweise Mülltüten über, da keine Schutzkleidung verfügbar ist. Nicht nur, weil das Land nicht vorbereitet war, sondern auch, weil die Organisation chaotisch ist: Ein Mitarbeiter aus dem US-Gesundheitsministerium erfuhr auf Anfrage bei thailändischen Kollegen nach Masken, dass dort eine Lieferung aus den USA erwartet würde.
Zu spät, zu wenig, zu inkonsequent.
Aber das sind nur die direkten Reaktionen auf die aktuelle Pandemie.
Gewarnt wurde bereits seit Jahren, dass es irgendwann zur Ausbreitung einer neuen, ansteckenden Krankheit kommen würde. Aber wie immer, wenn etwas nicht konkret ist und auch noch Geld kostet, wurden die Warnungen in den Wind geschlagen. Dabei gab es klare Hinweise auf die Gefährlichkeit der Lage.
2002 stellten Ärzte in China ein neues Virus fest, an dem innerhalb kurzer Zeit mehrere Menschen starben, und auch das medizinische Personal, das sich um sie gekümmert hatte. SARS nannte man wenig später das Virus, das die Atemwege angriff. Es blieb jedoch bei einer Epidemie mit weniger als 1000 Toten.
Im März 2009 tauchte die so genannte „Schweinegrippe“ mit dem H1N1-Virus in Mexico auf. Drei Monate später waren über 28.000 Menschen damit infiziert – in 74 Ländern. Im August erklärte die WHO, die Pandemie sei vorüber. Man zählte weltweit über 18.500 Tote. Kein Land war davon ausgenommen gewesen.
Die WHO wurde anschließend kritisiert, sie hätte „überreagiert“.
Ob man ihr das auch 2020 vorwerfen wird?
Wohl kaum. Diesmal lag der Ball lange im eigenen Strafraum, wo man ihn nur lustlos hin und her kickte. „Man“ heißt hier: Regierungen, Gesundheitsministerien, Planungsstäbe. Dabei war bekannt, dass es im Falle einer Pandemie allerorten an Ausrüstung mangeln würde. Es gab schlichtweg keine Lager mit Reserven.
Auch die WHO konnte nicht viel unternehmen: Am 5. Februar forderte sie 675 Mio. $ von ihren Mitgliedsstaaten, um Maßnahmen ergreifen zu können. Am 4. März hatte sie 1,2 Mio. $. So viel zum Unterschied zwischen Reden und Handeln in der internationalen Politik.
Sind wir Opfer einer auf Rendite getrimmten Denkweise, die von der eigenen Unfehlbarkeit ausgeht? Oder ist es einfach Ignoranz, das Nicht-Wahrhaben-Wollen einer Veränderung, das Beharren auf dem Bekannten, dem Normalen, bis zuletzt?
Dies ist keine Anklage. Es ist der Versuch zu begreifen, warum wir erst reagieren, wenn die Realität nicht länger zu leugnen ist.
Die Natur arbeitet nicht mit Just-in-Time-Lieferungen. Sie hat ihre Zyklen und Rhythmen, an die sich alles Leben anpassen muss, um zu überleben. Und es funktioniert. Nicht unbedingt im Einzelnen für das Individuum, denn der Tod ist Teil des Systems, aber im Großen für die Arten.
Der Mensch allerdings kann vorausplanen, für Notfälle vorsorgen. Er muss das sogar, um zu überleben, zumindest in unseren Breiten, wo der Winter kaum Nahrung liefert. Und auch Pandemien sind uns nicht unbekannt: Pest, Pocken, Cholera, Grippe sind Beispiele aus europäischer Vergangenheit.
Was sollte unsere Vorsorge umfassen?
Die Antwort darauf wird ein Spiegel unserer Werte sein. Er könnte uns entlarven.
Es wird Zeit, dass wir nicht alles aus dem Blickwinkel der Wirtschaftlichkeit sehen. Diese Pandemie kostet Hunderte Milliarden. Vorbereitet zu sein hätte nicht einmal ein Tausendstel gekostet. Und zehntausende unnötiger Opfer erspart.
Es wird Zeit, dass wir die Zukunft unserer Kinder nicht länger mit den Konsequenzen unserer Ignoranz belasten, weil es sich angeblich finanziell nicht lohnt, sie sauberer, sicherer und lebenswerter zu gestalten. Wenn wir alt sind und pflegebedürftig, könnte die nächste Generation, die uns ja dann versorgen soll, das Gleiche zu uns sagen: Wir haben es durchgerechnet – es lohnt sich nicht, das bisschen Zukunft, das ihr noch habt, lebenswert zu gestalten.
Es wird Zeit, dass wir die weltweite Vernetzung nicht nur für Profite nutzen, für Urlaube und Nachrichten von zweifelhaftem Wert, sondern dass wir uns als eine Gemeinschaft wahrnehmen, eine Menschheitsfamilie, in der man sich gegenseitig hilft, wenn es darauf ankommt. Was könnten wir alles erreichen mit Kooperation statt Konfrontation!
Das ist nicht im Interesse derzeitiger Politik. Aber genau das muss sich ändern. Müssen wir ändern. Politik wird fast immer nur allgemeine Haltungen reflektieren.
Vielleicht ist das Schwärmerei, Idealismus. Aber es braucht erst eine Idee, bevor man handeln kann. Davon sind viele gute im Umlauf, auch wenn ihnen noch zu wenige Beachtung schenken. Aber es waren immer die Schwärmer, die Idealisten, die etwas Neues zuwege brachten, niemals die Zögerlichen, die Egoisten.
An Geld ist kein Mangel, das haben wir bei der Finanzkrise erlebt, und wir sehen es auch jetzt wieder. Es landet aber allzu oft in denselben Taschen. Und da bleibt es dann. In dieser Zeit der Not ziehen sich die Reichen auf ihre Anwesen und Yachten zurück, überlassen die Massen ihrem Schicksal. Immerhin gibt es einige, die große Summen spenden. Manche propagieren sogar neue Denkweisen. Aber es wird dauern, bis sie sich verbreiten.
Die Frage ist, wie viel Zeit wir diesem absurden System noch zugestehen, wie viel Macht. Auch über uns. Wir müssen es irgendwie hinbekommen, uns davon nicht auffressen lassen, sonst finden wir neben der Arbeit weder die nötige Distanz noch die Zeit, es in Frage zu stellen.
Während die einen zur Zeit 12-Stunden-Schichten leisten, unter teilweise erbärmlichen Bedingungen, und bei völlig unangemessener Bezahlung ihre Gesundheit, sogar ihr Leben aufs Spiel setzen, nutzen andere die Krise, um Milliarden an der Börse zu verdienen. 2,6 Mrd. Dollar hat ein britischer Hedgefonds-Manager kürzlich eingestrichen, der gegen die Börse gewettet hatte. Wenn das nicht absurd ist.
Was wohl eine Krankenschwester dazu sagen würde, wenn er mit COVID-19 ins Krankenhaus käme?

PS: Seit Anfang April hat die WHO die geforderte Summe von 675 Mio. $ beisammen. Die Zahl der Infizierten weltweit hat derweil eine Million überschritten.


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