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Camping – Vom Wesen der Dinge

Heiß brennt die Sonne vom Himmel, ich sitze im Schatten des Schirmes, die Augen geschlossen. Eine leichte Brise kühlt mich. Mein Sonntagkurznachmittagbier entfaltet seine Wirkung, alles ist gut so wie es ist. Ich bin so müde wie man nur sein kann. In wenigen Augenblicken bin ich ganz woanders.
Als letztes höre ich hinter der mannshohen Hecke Reifen auf dem Schotter knirschen, ein Motor erstirbt.
»Geerd!«
Oh Gott.
»Geeeerd!«
Meine Nachbarn.
Der Motor ist kaum zum Stillstand gekommen, und schon ist Gerd gefordert.
»Das waar aber auch eine Fahrt! Der halbe Gulaschtopf ist übergeschwappt, wie du gebremst hast.«
Else hat ein Talent Kleinigkeiten zu betonen, dass es einen unwillkürlich gruselt.
Ich höre, wie eine Tür geöffnet wird und jemand – Geerd – mit einem tiefen Seufzer aussteigt.
»Wenn ich nicht so hart gebremst hätte, hätt’s geknallt, dann wärste gleich hinterhergeschwappt«, knurrt er, doch erst, nachdem die Fahrertür zuschlägt.
Diese verdammten Staus an den Freitagnachmittagen. Was müssen die Leute auch immer so hektisch von der Arbeit nach Hause fahren, wenn Gerd und Else zum Camping wollen. Als Rentner können sie sich die Zeiten ja nicht einfach so aussuchen, wie es den anderen passt, wohl.
»Komm, Else«, sagt Gerd versöhnlich. »Ich nehm die Gulaschsuppe, dann kannst du besser aussteigen.«
Der Gedanke an heiße Gulaschsuppe bei dreißig Grad im Schatten lässt mich in Schweiß ausbrechen. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.
»Machste uns ’n Kaffe?« fragt Gerd.
Irgendwo auf dem Weg von Südamerika nach Europa ist beim Kaffeebohnentransport ein e verloren gegangen. Ich stelle mir vor, wie es holpernd über Bord rollt und untergeht, im weiten Blau des Atlantiks einsam in die Tiefe sinkt. In Hamburg werden die Bohnen ausgeladen und später geröstet. Die für Duisburg haben ein e weniger. Kaffebohnen.
»Getz lass mich doch ersma ankommen, Gerd.«
Die unsichtbaren Stimmen hinter der Hecke wandern zum benachbarten Vorzelt. Ich höre den Reißverschluss, Schritte, den Schlüssel, dumpfe Schritte im Wohnwagen, es rumpelt, Sachen werden abgeladen.
Auf dem Campingplatz bekommt man hautnah mit, was nebenan läuft, wenn man nicht auf seine eigenen Dinge konzentriert ist. Mein derzeitiger Zustand ist das Gegenteil von Konzentration. Ich war nur noch einen halben Schritt von Nirvana entfernt, als der Schotter unter Else knirschte.
»Ich tu die Sachen ersma in Kühlschrank«, berichtet Else, die Gründliche. »Sons wernse noch waam.«
»Und ich drehma das Wasser auf«, meldet Gerd, der Fleißige.
Fasziniert höre ich zu, die Augen geschlossen, und sehe sie förmlich bei ihren Verrichtungen, wie sie ihren Pflichten nachgehen, gründlich, fleißig, ganz bei der Sache.
Sie informieren sich ständig über Dinge, die völlig belanglos sind, und haben wahrscheinlich den Eindruck, sich zu unterhalten. Wie Gänse, die ständig Laut geben, um sich der Gemeinschaft zu versichern. Gack, gack, gäääck. Ich bin hier, du bist da, alles klar.
So geht es den ganzen Tag weiter. Das ganze Wochenende. Ein ganzes Leben. Ich würde spätestens nach drei Tagen zum Mörder. Oder zum Flüchtling, je nach Tageslaune.
Die inneren Bilder werden übermächtig. Erschüttert öffne ich die Augen und starre auf die grüne Blätterwand, die ihre Welt von meiner trennt.
Und dann passiert es: Ich verliere mich in ihnen. Gerd und Else übernehmen mich. Gerds Hände sind meine Hände, und gleichzeitig bin ich Else. Ihre Welt ist meine, und meine ist dahin. Ich wehre mich gegen die freundliche Übernahme, aber es ist einfach stärker als ich.
Ich mach getz die Kühlschranktür auf, stell die Milch innen rein und das Gemüse nach unten, Gerd. Und ich klopf gerade eine Spinne ausm Schlauch, Else. Die ist ganz voller Haare (ich sehe die Spinne ganz nah vor mir) und mit lange Beine. Von dem Bier passen nich alle Flaschen in Kühlschrank, die müssen wir dann später reintun. Nich vergessen! Un der Grill ist voll Spinnweben, die mach ich getz mal wech.
Ich denke und sage nur, was man ohnehin sieht und weiß und eigentlich gar keine Rolle spielt. Gibt es nichts, das darüber hinaus geht? Etwas, das tiefere Bedeutung hätte? Nö. Millionen Jahren Evolution – verplempert.
Andererseits – wie soll man auch einen Gedanken entwickeln, der noch nie gedacht wurde!? Einen, der über das Offensichtliche hinaus geht? Noch dazu in dieser Hitze.
Also, das sind aber auch komplizierte Gedanken, hörnSema. Kommwerma zurück zur Sache. Geerd, findsu nich auch? Ich hör getz erstma auf mi’m Lesen und kuck ma, ob Sie überhaupt noch zuhören. Is gut, Else. Und wenn Sie sagen, ja, geht noch, dann dreh ich das Blatt hier um und les noch ein bisschen was. Wär das was?
Das isso dunkel da drüben, ich kann Sie gaanich richtich sehn! Sind Sie noch da?
Gack, gack, gäääck!


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