Am Kiosk

Es wird warm im Auto. Ich lupfe den Vorhang und sehe die Pappeln golden vor dem blauen Fluss leuchten. Ich öffne die Schiebetür, um frischen Wind herein zu lassen, befülle die Mokkaletta und stelle sie auf den Gaskocher. Während die Flamme leise zischt, stehe ich auf, wasche mich, ziehe mich an. Den Vorteil, ein gutes Bett in meinem VW-Bus zu haben, genieße ich immer wieder. So kann ich ganz nah am Wasser parken und den wunderbaren Blick sogar noch vom Bett aus genießen.
Unter dem Bett sind Stuhl und Tisch verstaut, die ich vor das Auto auf die Wiese in die Sonne stelle. Brot, Honig und andere Köstlichkeiten herausgeholt, dann kocht auch schon der Espresso. Noch ein Töpfchen warme Milch dazu – schöner kann ein Frühstück nicht sein.
Während ich meinen Milchkaffee trinke und dem Rauschen der Pappeln lausche, traben Jogger vorbei, Hunde werden ausgeführt, Radfahrer gleiten durch das Grün. Der Rhein fließt träge vorbei, Frachter brummen dumpf, der Sonntagmorgen entfaltet seine behäbige Ruhe und lässt alle Anspannung verdampfen wie den Regen, der gestern Abend noch niedergewittert ist. Bald wärmt die Julisonne die Haut, ein sanfter Wind bringt Kühlung.
Nach dem Frühstück gehe ich hinunter zum Rheinufer und stapfe durch den Kies am Wasser entlang. Zum Laufen bin ich zu müde, also dehne ich meine Sehnen ein wenig und setze mich auf einen dicken Stein, um eine Gänsefamilie mit sechs Gösseln zu beobachten, die noch Flaum auf dem Rücken haben.
Nachher gehe ich zum Kiosk auf Toilette. 50 Cent kostet die Benutzung, wenn man nichts verzehrt. Der Besitzer drückt einen Knopf, es summt und ich kann hinein. Anschließend bestelle ich einen Kaffee, um mich zu den Experten zu setzen, die vor und neben dem Kiosk die Tische umlagern. Sie sind sämtlich um die siebzig oder älter, jeder kennt jeden. Das Palaver beim sonntäglichen Frühschoppen am Kiosk ist ihr Ritual.
Vor mir steht ein nagelneues eBike am Straßenrand.
Ein hagerer Mann mit Schlägermütze steht zwei Armlängen entfernt und gibt den Ton an. Zu allem und jedem hat er eine Meinung. Fast pausenlos redet er auf zwei Spätsemester ein, die am Tisch sitzen und ihre Hand locker an der Flasche Bier haben. Sein rechter Ellbogen ist verbunden, in der linken Ellbeuge bedeckt ein Pflaster eine Injektionsstichwunde. Hinter ihm sitzt ein älterer Mann mit Schnauzbart in einem elektrischen Wägelchen, die Füße in roten Turnschuhen. Sein linker Knöchel weist eine dunkle Narbe auf, unter der eine starke Schwellung zu sehen ist. Er hört dem Monolog zu, ohne sich zu beteiligen.
Radfahrer jagen vorbei wie auf der Flucht, ständig ist ihnen jemand im Weg. Andere gleiten gemächlich durch den Sonntag, um an irgendeinem Café anzuhalten und ihren Pfunden ein weiteres hinzuzufügen. Eine Gruppe von Joggern, lauter junge Leute, trabt im Hintergrund vorbei, jeder eine Uhr am Handgelenk. Immer wieder schaut einer von ihnen auf seine Uhr.
Ein Kleinwagen hält vor dem Kiosk, ein Mann in den späten Sechzigern steigt aus, mit dem Habitus eines Vorgesetzten. Er wird sofort mit Namen begrüßt. Lächelnd gesellt er sich zu der Expertenrunde am Nebentisch, wechselt ein paar Worte mit ihnen, holt sich ein Bier und stellt sich wieder hinzu.
Ich höre Wörter wie Bepanthen und Rezept heraus, Ärger mit der Krankenkasse über abgelehnte Behandlungen oder verweigerte, aber notwendige Hilfsmittel. Sie reden über Menschen, die sie kennen oder kannten, aber ohne über sie herzuziehen. Und dass einer mit dem Schiff zur Dialyse so mitfahren durfte, bis der Kartenkontrolleur in Rente ging.
Ein weiterer Rentner nähert sich, einen Regenschirm schwingend, und stellt sich zu dem Mann in dem Elektrowägelchen. Sie unterhalten sich entspannt, ab und zu lachen sie.
Die Männer um mich herum sprechen mit stark rheinischem Akzent. Ich lausche ihnen, ohne dass mich interessierte, worum es geht; allein der Klang ihrer Stimmen wirkt angenehm beruhigend und auch erheiternd auf mich. Ihre kurzen Einwürfe und die Art, wie sie Namen nennen („Mertens Hans“) oder sich gemeinsam an jemanden erinnern („dä is och at lang dud“) sind so typisch für das Rheinland, meine Heimat, dass ich es gern in mich aufsauge. In zwei Wochen werde ich nach Bayern umsiedeln, da spricht man sehr anders.
Eine Frau geht in den Kiosk, kommt mit drei Eis heraus. Im Weggehen kündigt sie den Männern ihren Heinz an, der gleich kommen wird, „um ze klaafe“. Alle lachen.
Der Vorgesetzte steigt in sein Auto ein. 
„Tschüss Wolfjang“, höre ich die alten Stimmen sagen.
Er nickt lächelnd zurück und fährt weg.
Der Mann mit dem Schirm verabschiedet sich von seinem Gesprächspartner und geht über die Straße. Auch die Männer am Nebentisch stehen auf, verabschieden sich mit humorigen Sprüchen voneinander und gehen heim oder spazieren. Der Mann mit dem Elektrowagen wendet auf der Straße und saust davon.
Der Wortführer mit der Schirmmütze steht neben dem eBike und schaut ihm nach.
„Mann, der jeht aber ab!“, sagt er, obwohl er keine Zuhörer mehr hat.
Dann drückt er einen Knopf am Lenker, steigt auf und fährt in entgegengesetzter Richtung davon.
„Ach nee, der Willem! Biste och at hee!“, sagt er.
Schon steht er wieder und ist auf der anderen Straßenseite im Gespräch.
Ich stehe auf und bringe die Kaffeetasse hinein.
Wer so in den Sonntag starten kann, denke ich, der darf sich wirklich glücklich schätzen.
Und bin froh, dass ich einer von denen bin.


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