Schiffbruch einer Arche

So langsam lerne ich Noah kennen. Nicht, dass wir uns begegnet wären. Ich höre ihn nur ständig.Ich schätze ihn auf fünf Jahre. Seine Familie inklusive Oma verbringt seit einer Woche ihre Ferien auf dem Campingplatz, wo ich wohne.

"Ich will jetzt den Hammer!", quengelt er soeben. "Ich will jetzt den HAMMER!"

Dann beginnt ein kreischendes Weinen, dem man anhört, dass es dazu dient, etwas zu erreichen. Und wenn es nicht der Hammer ist, dann will er da rauf. Oder hier runter. Oder Jonah soll damit aufhören.

Dieses Kreischen begleitet mich seit Tagen. Immer wieder schreit er seine Wünsche hinaus, ein ums andere Mal, wiederholt sie, bis man ihn gewähren lässt. Was ihm an Jahren fehlt, gleicht er aus durch Hartnäckigkeit. Vielleicht hat er sogar einen ganz eigenen Charme, durchaus möglich bei so viel Chuzpe.

Er hat verstanden, dass er etwas erreichen kann mit seinem nervtötenden Gekreische. Leise Töne scheinen seiner Stimme fremd.

Ganz anders seine Oma. Ihre alte Frauenraucherstimme klingt heiser und rau wie eine Raspel. Sie klingt sehr angestrengt, wenn sie versucht gehört zu werden.

Die junge Mutter spricht schnell, meist mit hoher Stimmlage. Ständig gibt es etwas zu klären, zu schlichten, anzuordnen.

"Noah, lass die Schuhe an!", sagt sie soeben mit erhobener Stimme. "Die bleiben an!"

Der Vater, ein junger Mann, spricht nachlässig, verwaschen, als ob er an das, was er sagt, selbst nicht glaubt. Er hört sich mit jeder Äußerung an, als überspiele er etwas – etwas, das wesentlich wäre für ein glückliches Familienleben.

Noahs Geschwister hört man weit weniger oft. Meist versuchen sie den Eltern zu erklären, dass Noah im Unrecht ist. Dann geht seine Sirene wieder an.

Auch die Nächte sind erfüllt von unechtem Weinen, das sich über Stunden hinziehen kann. Ab und zu erklingt dann die Stimme des Vaters oder der Oma, ohne etwas zu erreichen.

Ich höre Rumpeln, Gerangel, dann entsteht Streit unter den Kindern. Wieder kreischt Noah.

"Was ist denn jetzt schon wieder?", fragt die müde Stimme der Oma.

Noah kreischt unbeirrt weiter.

"Gib das zurück!"

Das Kreischen wird lauter.

Dann die Stimme der Mutter, die versucht, Kinder und Spielautos zu sortieren.

"Noah, komm her!", ruft der Vater.

"Nein!"

"Doch, komm her!"

Das alles ist menschlich, und doch kaum zu ertragen. Es ist eine Seite der Menschlichkeit, aber das Ausgleichende fehlt, das Friedliche. Es ist natürlich vorhanden, ich höre ja nur das Laute. Aber es scheint unterzugehen im permanenten Kampf um die Oberhand. 

Ich kann mich nicht an solche Situationen mit meinen Kindern erinnern. Meine Frau und ich waren einig, was die Erziehung anging, da gab es wenig Unklarheit. Vielleicht haben die Kinder deshalb einen anderen Umgang miteinander haben können, schwer zu sagen.

"Noah, hör auf jetzt!"

Die Stimme des Vaters, bemüht um Festigkeit, bleibt viel zu konturlos, um zu beeindrucken.

Noahs Kreischen erschallt so oft, dass ich mich wundere. Sucht er den Konflikt, um sich als Sieger fühlen zu können?

"Noah, lass das!", sagt die Oma jetzt. "Hör auf, lass das."

Wenig Hoffnung ist in ihrer Stimme, dass er das tatsächlich lässt.

Ich wünsche Noah, dass er jemandem begegnet, der sich von ihm nicht erpressen lässt und ihn zugleich lieben kann.

Ein Erpresser, der nicht weiß, dass er  anderen ständig seinen Willen aufzwingt, ist ein armer Mensch. Allein kann er nicht sein. Noah holt sie auf seine Arche, um sie erpressen zu können. Was wie Rettung scheint, ist ständige Strafe. Seine Arche – ein Eiland ewigen Elends.

Wer sich retten will, der springe!


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Kommentare: 1
  • #1

    Heinke (Sonntag, 26 Juli 2020 16:30)

    Interessant!
    Ein Stimmenfilm und doch kein Hörspiel, es erlaubt mir meine eigenen Bilder der Stimmen und Menschen in der angedeuteten Kulisse, aber auch einen Blick auf den, der da hinhören muss. Seine Weltsicht. Passt zwar an sich. Rundet die ganze eingefangene Welt ab, Dennoch , ein wenig weniger Moral würde mir noch mehr sagen.