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Am Rhein

Ich drehe den Zündschlüssel und der Motor erstirbt. Nach anderthalb Stunden Fahrt endlich Stille. Vogelstimmen, Wind, der in den Bäumen rauscht, ein Hund bellt.
Ich stehe in Niederdollendorf, auf einem Parkplatz nahe der Fähre nach Bad Godesberg. Vor mir eine Wiese, dahinter ein schmaler Weg, auf dem Spaziergänger und Jogger vorbei kommen. Von hier aus sind es vielleicht vierzig Meter bis zum Wasser. Vom Weg führen Trampelpfade durch die Büsche hinunter an den Rhein. Zwei leere Bänke stehen etwas entfernt neben einer Pappel  am Wegrand und schauen auf den Fluss.
Ich komme gerne her und bleibe über Nacht. Es ist so ruhig hier. Der Rhein fließt stetig und unaufgeregt nach Norden, die hohen Pappeln rascheln im Wind, der fast immer weht, und abends glitzert das Wasser im Licht der untergehenden Sonne. Schiffe gleiten vorbei, Frachter, Ausflugsschiffe, die kleine Fähre und Hotelschiffe. Hunde werden ausgeführt, spielen miteinander, laufen über die Wiese. Auf der anderen Seite säumen große Villen und Häuser das Ufer, in der Ferne ragt der Post-Tower aus dichtem Grün hervor, weiter vorne Kirchtürme.
Meist komme ich am Wochenende her, wenn der Rhythmus der Stadt langsamer schlägt. Heute regnet es. Ich sitze im Auto und schaue auf den Rhein. Neben mir hält ein sehr neuer grauer Kombi, der Fahrer bleibt sitzen und lässt den Motor eine Weile laufen. Er holt ein Handy hervor und tippt darauf herum, starrt auf den Bildschirm. Kurz darauf höre ich die laute Stimme einer Frau, mit der er eine Unterhaltung beginnt.
Ein weißes Hotelschiff mit Schweizer Flagge gleitet vorbei, „Carmen“ steht in großen Lettern am Bug und in der Mitte des Schiffes. Dutzende großer Fensterscheiben reihen sich fast über die gesamte Länge des Schiffes aneinander, dahinter sehe ich die Umrisse von Menschen, die sitzen oder gehen oder stehen.
Ein Roller knattert heran, hält auf der anderen Seite neben mir. Der Fahrer, ein Mann um die Fünfzig, nimmt den Helm ab und seufzt laut. Den Helm in der rechten Hand humpelt er zum Wasser, während er mit sich selbst spricht. Sein schwarzer Roller ist mit Aufklebern verziert, die seltsame Motive mit Hochhäusern und Großstadtleben darstellen und mir überhaupt nichts sagen.
Eine große, dünne Frau joggt so langsam vorbei, dass man mühelos nebenher gehen könnte.
Zwei ältere Hundebesitzerinnen führen mit langsamen Schritten ihre kleinen Lieblinge an der Leine über die Wiese, unterhalten sich, bleiben stehen, reden. Es gibt so viel zu erzählen auf der Welt. Die eine nimmt eine Tüte in die Hand und hebt auf, was ihr blondes Hündchen neben einem Zweig abgelegt hat, der auf der Wiese liegt. Die andere löst ihren schwarzen Pudel von der Leine, holt einen Tennisball hervor und wirft ihn mit einer steifen Bewegung nicht weit weg. Der Pudel läuft begeistert los und bringt ihn zurück. Dann gibt es Leckerli. Beide Hunde wedeln pausenlos mit den Schwänzen, hüpfen umeinander. Dann gehen sie weiter. Das Kläffen eines weiteren kleinen Hundes lässt den Pudel stehenbleiben und zurückschauen. Frauchen klatscht in die Hände und ruft ihn zur Ordnung. Weiter geht’s, die Frauen und Hunde verschwinden flussabwärts zwischen den Büschen und Pappeln.
Eine junge Frau im Trainingsanzug geht den Weg am Fluss entlang, schaut ununterbrochen auf ihr Handy.
Der Rollerfahrer kommt zurück, setzt den Helm auf und fährt weg. Der Mann im Auto telefoniert immer noch, jetzt mit einem Mann, dessen Stimme sehr wichtige Mitteilungen zu machen scheint.
Ich halte den Blick aufs Wasser gerichtet, zwischen zwei Büschen hindurch. Als ich nach einer Weile auf die Wiese schaue, sieht es aus, als begänne das Gras in der entgegengesetzten Richtung zu fließen, so, als ob sich die Wiese zusammenzöge und verformte. Nach ein-, zweimal Blinzeln hört die Täuschung auf.
Ein weißer Lieferwagen hält hinter dem Kombi, der Fahrer bleibt sitzen, man hört laute Musik, dumpf dröhnen die Bässe herüber. Dann wird sie leiser.
Drei Hunde tummeln sich auf der Wiese, laufen umeinander und um einen älteren Mann, der lächelnd ihr Treiben verfolgt und sich nach den Besitzern umschaut, die aber nicht näher kommen. Immer wieder schnuppern sie an dem Zweig auf der Wiese. Jogger in leuchtenden Farben traben vorbei, Ohrhörer in den Ohren, die Köpfe gesenkt.
Ein bulliger Mann mit einem bulligen Hund an einer dicken Lederleine geht über die Wiese. Sie schauen gleichermaßen grimmig und verständnislos um sich.
Der Fahrer des weißen Lieferwagens trinkt etwas, schaut auf den Rhein. Dann startet er den Motor und fährt davon.
Ein großer Frachter tuckert beharrlich flussaufwärts. Man könnte zu Fuß gemeinsam mit ihm nach Süden reisen. Er begegnet zwei weiteren, die doppelt so schnell auf ihn zukommen. Die Frachter haben Namen wie „Johanna“, „Karla“ oder „Libertas IV“.
Der ältere Mann kommt zurück, schlendert allein über die Wiese, bleibt stehen, schaut auf seine Füße, auf den Rhein, auf seinen Hund. Der Hund bleibt stehen, hockt sich hin und macht den Rücken krumm. Der Mann nimmt eine schwarze Tüte aus der Tasche und hebt auf, was der Hund ablegt.
Der Motor des grauen Kombis brummt, das Auto fährt weg.
Ein Mann mit Spitzbauch unter dem T-Shirt führt seinen wolligen Spitz aus. Der Hund schnuppert an dem Zweig auf der Wiese. Der Mann geht weiter, doch der Hund stemmt sich gegen die Leine. Der Mann wird zurückgerissen und schimpft auf den Hund, während er kopfschüttelnd stehen bleibt. Der Spitz pinkelt auf den Zweig, dann gehen sie weiter.
Die beiden Frauen mit dem Pudel und dem blonden Hund kommen zurück, immer noch mit Reden und Ballwerfen beschäftigt. Die Frau mit dem blonden Hündchen verabschiedet sich und geht nach Hause.
Für wenige Augenblicke ist niemand zu sehen, ich höre nur das Rauschen des Windes in den Blättern und den Regen. Dann kommt eine kleine Gruppe von Menschen mit Schirmen heran und geht langsam über den Parkplatz zum Auto.
Die Büsche wiegen sich im Wind, dazwischen irrlichtert silbern und grau das Wasser des Flusses. Amseln gleiten durch die Luft, hüpfen über die Wiese, fliegen davon. Die leeren Bänke glänzen vor Nässe und starren auf den Rhein und ich frage mich, ob ich noch bleiben soll oder auch wegfahren und all dies hier sich selbst überlassen und dem Wind und dem Rauschen der Blätter.
Ich bleibe sitzen und schaue durch den Regen auf den Fluss, der stetig nach Norden fließt, und für einen kurzen Moment kommt ganz vorsichtig die Sonne heraus und mir ist, als hätte nichts von dem, was ich aufgeschrieben habe, irgendeine Bedeutung oder überhaupt jemals stattgefunden, und ich auch nicht.


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