· 

3. Tag: Ondres, Biarritz

Nach stundenlanger Fahrt bemerke ich, wie grün die Landschaft ist und dass mir schon seit einiger Zeit warm ist. Nach 1600 Kilometern und zwei frostigen Nächten spüre ich endlich die Wärme des Südens. Bis ans Meer sind es noch über hundert Kilometer, aber die Landschaft spiegelt das milde Klima: Kiefernwälder, Pinien, auch kahle Laubbäume, aber viele immergrüne Pflanzen und darüber ein blassblauer Himmel ohne Wolken. Und dann ist es auch noch Freitag.
Ich mache Rast, fahre weiter, will ans Meer. Bei Ondres lese ich „Plages“ und biege ab. Hier ist schon Baskenland, das merkt man an den Schildern, die Französisch, Spanisch und Baskisch beschriftet sind. Strand heißt „Hondratza“ auf Baskisch. Mehrzahl: Hondratzak. Was für ein Wort ...
Nach wenigen Kilometern der Parkplatz hinter den Dünen. Ich stelle den Motor ab, öffne die Tür und höre das Donnern der Atlantikwellen. Ich atme tief aus und mache mich auf den Weg. Am Strand ziehe ich sogleich die Schuhe aus, kremple die Hosenbeine hoch und gehe schnurstracks ins Wasser. Die Wellen brechen mit dumpfem Donner und schäumen meterhoch, bevor sie in wild hüpfenden Schaum übergehen, der sanft rauschend auf dem rauen Sand ausläuft.
Ich fühle die groben Sand- und Muschelkörner an den Fußsohlen, grabe die Zehen in die kalte Nässe und lasse den eisigen Schaum einer Welle meine Hose tränken. Das muss sein, wann immer ich ans Meer komme.
Der Strand ist sehr weit, viel größer als in Holland. Er erinnert mich an Südafrika, an einen einsam weiten Strand ohne Menschen. Aber hier thront ein Restaurant auf der Düne, dahinter blauer Himmel und der Mond. Überall sitzen und liegen Menschen, die den Freitagnachmittag in der Sonne genießen. Manche haben T-Shirt und Hemd ausgezogen, eine Frau liegt nackt zwischen Baumstämmen, die die Flut angetrieben hat. Ich binde mein Hemd um die Hüfte und lasse die Sonne an meinen Körper. Es ist Mitte Februar, ich komme aus der nassen Kälte des Niederrheins und kann die milde Luft hier in Frankreichs Süden kaum fassen.
Bei einem längeren Spaziergang durch den schweren Sand fällt mir ein, dass ich keinen Schlafsack dabei habe, obwohl ich doch so gern am Wasser schlafe. Ich habe mir einfach nicht vorstellen können, dass es so warm werden könnte.
Ich hole eine Flasche Bier aus dem Auto und setze mich an den Strand. Es ist fast fünf, aber die Sonne scheint noch kräftig und wärmt wunderbar.
Eine Frau im Rentenalter geht zum Wasser hinunter, in kurzer Hose und mit einem weißen Handtuch über den Schultern. Es hängt schräg über ihren Rücken. An der Wasserlinie bleibt sie reglos stehen. Von hier sieht es aus, als stünde sie fast dort, wo sich die Wellen aus dem Wasser heben und kurz darauf vornüber stürzen. Sie rollen nicht lange heran, sondern stehen plötzlich auf und werfen sich gleich darauf nach vorn. Aus meiner Perspektive scheint die Frau vor einer Wand aus Wasser zu stehen, doch wie durch einen Zauber wird sie nicht nass.
Eine junge Frau, die ihren rechten Arm in einer Binde trägt, setzt sich etwa zwanzig Meter vor mir in den Sand, holt eine Zeitschrift heraus und beginnt zu lesen.
Links von der Frau am Wasser, vielleicht sechzig, siebzig Schritte entfernt, läuft ein junger Mann mit Lockenmähne in die Wellen, stellt sich breitbeinig in den Schaum und spannt die Arme weit aus.
Eine Frau kommt vor mir her gegangen, zwei kleine Hunde um sich. Sie spricht ununterbrochen und ganz ernsthaft mit dem zweiten, langsameren. „Viens, viens ici. Dépêche toi“! Komm her, beeil dich.
Die Frau mit der Zeitschrift zuckt zurück, als der kleine Hund zu ihr kommt und schnuppert.
Nein, lass die Frau in Ruhe, sagt die Hundebesitzerin. Lass uns weitergehen. Entschuldigen Sie, Madame. Nun komm schon. Jetzt stell dich nicht so an. Was musst du denn auch immer so neugierig sein. Das gehört sich nicht.
Die Rentnerin dreht den Wellen den Rücken zu und reckt die Arme hoch. Sie scheint mit dem Handy ein Foto von sich am Rande des Meeres zu machen. Dann steht sie wieder wie vorher auch und bewegt sich nicht.
Der junge Mann ist zu seinen Freunden zurückgelaufen, sie packen ihre Sachen und machen sich auf.
Eine junge Frau geht ins Wasser, etwa dort, wo der junge Mann gestanden hat. Ihre Füße spielen mit dem Sand, dem Schaum, sie dreht sich hin und her. Dann steht sie still und schaut auf die Wellen.
Die Rentnerin geht zwei kleine Schritte nach vorn, so dass der Schaum ihre Knöchel umspült.
Die junge Frau im Wasser hebt die Arme, bewegt sie nach links, nach rechts, nach unten, hebt die Hände in Schulterhöhe, lässt sie sinken. Ihre Ellbogen bleiben die ganze Zeit dicht am Körper.
Ich habe mein Bier ausgetrunken und betrachte die Szenerie. Die Menschen am Wasser sind so klein, der Horizont aus Blau und Blau steht hoch über ihren Köpfen. Im Südwesten gleißt die Sonne über den Pyrenäen, das Meer donnert und glitzert ohne Pause. Ein sanfter Wind bringt Kühlung.
Die junge Frau hat die Hände in die Hüften gestemmt, schaut immer noch ins tosende Wasser. Die Rentnerin steht unbeweglich, das weiße Handtuch schräg über ihren Rücken.
Die kleinen Hunde hüpfen auf kurzen Beinen mühsam durch den zertretenen Sand, während Frauchen pausenlos mit ihnen redet.
Was bedeutet das alles? Ich weiß es nicht. Es war einfach schön, das zu beobachten, und mich in all diesen Menschen wiederzuerkennen. Ich hätte noch stundenlang dort sitzen und das alles betrachten können. Aber ich wollte es ja aufschreiben. Sonst säße ich wohl jetzt noch in Ondres am Strand.

 

In Biarritz parke ich irgendwo, bleibe eine Weile im Auto sitzen. Das Meer ist ganz nah, nur zwei Straßen weiter. Ein junger Kontrolleur geht an mir vorüber, hier muss man fürs Parken bezahlen. Er kontrolliert aber nicht, er hat wohl Feierabend.
Ich steige aus, gehe Richtung Strand. Ein Café mit Blick auf die Bucht lädt zu einem café au lait ein. Ich schreibe auf dem Laptop, freue mich an dem schönen Blick und den alten Häusern rund um die Bucht. Im Hintergrund ein alter Leuchtturm passt gut ins Bild.
Vor vierzig Jahren war ich schon einmal hier. Damals hatte ich mit drei Freunden eine Motorradtour durch Frankreich gemacht, drei Wochen, drei Motorräder, dreitausend Kilometer, und jeder hat nur dreihundert Mark Kosten gehabt. Wir haben mit unseren Luftmatratzen die Wellen von Biarritz geritten und uns dabei den Rücken durchgebogen. Die ganze Tour damals war ein wunderbares Abenteuer.
Nach einem Rundgang am Strand und durch die Straßen esse ich moules avec sauce Poulette (Muscheln in Weißweinsoße mit Crème fraîche) mit einem Glas Weißwein dazu und Mousse au Chocolat als Dessert. Danach fahre ich weiter. Das Schild Ilbarritz Plage lässt mich spontan abbiegen. Ich finde eine Straße direkt oberhalb vom Strand, von der ich aufs Meer schauen kann. Hier bleibe ich über Nacht.
Während ich dies schreibe, höre ich die Wellen rauschen.


Kommentar schreiben

Kommentare: 0